Baby Guide sprach mit Ralph Dawirs und Gunther Moll, u.a. Autoren des Buches „Die 10 größten Erziehungsirrtümer“ über die wichtigen ersten drei Lebensjahre eines Kindes und die Entwicklung danach.
Wie entsteht Urvertrauen?
Dawirs: Urvertrauen ist nicht angeboren. Es fällt auch nicht vom Himmel. Urvertrauen muss jeder Mensch lernen. Es entwickelt sich im Säuglingsalter, wenn alle Erwartungen des Babys nach Säugen, Körperpflege, Nähe, Ruhe und liebevollem Kontakt mit den Bindungspersonen von Geburt an nachhaltig und verlässlich erfüllt werden. So entwickelt der Säugling früh eine positive Erwartungshaltung.
Warum ist Urvertrauen wichtig?
Moll: Weil wir Menschen soziale Wesen sind. Und weil der Sinn des Lebens die Liebe ist. Und die Liebe bedeutet Liebe zwischen zwei Menschen. Und damit sich zwischen Menschen Liebe entfalten kann, brauchen sie die Fähigkeit des Urvertrauens in das Leben, in einen möglichen Partner, in die Liebe.
Was steht für Kinder zwischen 0 und 3 Jahren auf dem „Lehrplan“?
Dawirs: Die Entwicklung von Urvertrauen und emotionaler Kompetenz. Das Baby und Kleinkind lernen aus der sicheren Bindung heraus die Gefühle ihrer erwachsenen Bindungspersonen und zunehmend anderer Erwachsener zu verstehen und entwickeln ganz allmählich ihre eigene Gefühlswelt.
Warum ist die kindliche Entwicklung in hohem Maße störanfällig und welche Verhaltensmuster prägen sich in liebloser und aggressiver Umgebung ein?
Moll: Die sogenannte „Störanfälligkeit“ ist erst einmal ein großer Vorteil, denn sie ermöglicht Entwicklungen in vielfältiger Art und Weise, nach den verschiedensten Richtungen. Sie zeigt die Offenheit und „Ziellosigkeit“ von Entwicklung, physikalisch gesprochen von „Potentialität“. Auf der anderen Seite zahlen wir den Preis dafür, wenn Kinder nicht in guten Umgebungen aufwachsen. Denn in liebloser und aggressiver Umgebung werden sie selbst lieblos und aggressiv.
Was brauchen Babys?
Moll: Eltern. Und diese brauchen als Grundvoraussetzung Zeit. Und finanzielle Sicherheit. Dies ist die Aufgabe einer sozialen Gemeinschaft, die Verantwortung der Politik. Ich kann nichts zu Ihrem Land sagen, aber zu Deutschland möchte ich sagen, hier hat die Politik bisher versagt.
Ab wann sind „soziale Happenings“ unter Kleinkindern sinnvoll und wann bilden Kinder soziale Gruppen?
Dawirs: Erst ab dem 2. bis 3. Lebensjahr suchen und brauchen die Kinder die Gesellschaft mit anderen Kindern. Mit einer gut entwickelten Emotionalität und Vertrauensfähigkeit sind sie dazu vorbereitet. In Gemeinschaft, Auseinandersetzung und im Spiel entwickeln sie jetzt ihre sozialen Kompetenzen und entdecken die Welt.
Was ist elterliche Erziehungshoheit und warum hat sie Vorrang vor jeder institutionalisierten staatlichen Erziehung?
Dawirs: Zumindest in Deutschland ist die elterliche Erziehungshoheit ein Grundrecht mit Verfassungsrang. Sie leitet sich letztlich aus der natürlichen Legitimierung von Elternschaft ab. Eltern sind die natürlichen Delegierten einer Gemeinschaft für die notwendige Erziehung ihrer Kinder in Liebe und Freiheit. Institutionalisierte staatliche Früherziehung fördert dagegen emotionale Verarmung und Normierung.
Was bedeutet eine außerhäusliche Betreuung von unter Dreijährigen für die Entwicklung des Kindes und kann das Abtreten des Erziehungsauftrages in institutionalisierte Frühpädagogik eine Lösung sein?
Dawirs: Erziehung ist Betreuung plus Liebe. Elternliebe ist nicht ersetzbar. Keine Institution, keine Erzieherin, kein Staat liebt einen Säugling, wie die eigenen Eltern dies tun können. Sollen sie auch gar nicht. Sie organisieren und verwalten die Trennung von Säuglingen und Kleinkindern von ihren Bindungspersonen auf Zeit. Institutionelle Betreuung ist also Erziehung ohne Liebe. Dies greift tief in die Persönlichkeitsentwicklung ein. Die einzige Legitimierung von institutioneller Frühbetreuung ist der fehlende Wille oder die fehlende Möglichkeit von Eltern oder anderen Bindungspersonen, für ihre Kinder da zu sein.
Was braucht es, damit sich emotionales Erleben und Sozialverhalten positiv entwickeln kann?
Dawirs: Liebe, Verlässlichkeit, Nähe und Nachhaltigkeit in der Begleitung während der ersten 2 bis 3 Lebensjahren. Dann Bereitstellung von Räumen für soziale Interaktionen. Das umfasst in aller Regel den Besuch eines Kindergartens, der keine Vorschule ist. Die Kinder entwickeln ihre Persönlichkeit zwischen 3 und 6 Jahren nicht anhand von Lehrplänen, sondern im freien Spiel mit sich und anderen, im Kräftemessen und Weltentdecken.
Welche Rolle spielt die biographische Erfahrung der Eltern in der Erziehung und warum sollte man die eigene Geschichte reflektieren?
Moll: Ich bin überhaupt kein Freund der „Reflektion der eigenen Geschichte“. Natürlich prägen einen die Erfahrungen des Lebens, und aus Fehlern kann man klug werden. Und natürlich braucht es bei schlimmen Erfahrungen Hilfe und Unterstützung, auch von professioneller Seite. Aber als Eltern ist das Leben in die Zukunft, in die Entwicklung und Entfaltung ihrer Kinder hin ausgerichtet. Umsetzung der Möglichkeiten in die neue Wirklichkeit der Kinder. Also leben, statt „analysieren“, Zukunft statt Vergangenheit. Das gilt übrigens auch für die Beziehung von Erwachsenen untereinander.
Wie kann Erziehung (der Eltern) gelingen?
Moll: Wenn sie ihre ganze Liebe ihren Kindern schenken, ihre Kinder mit in die Welt hinein tragen, ihnen alles zeigen, was sie selbst kennen, mit Staunen und Freude das begleiten, was ihre Kinder selbst herausfinden und entdecken. Und ihnen Lebensfreunde und Humor vorleben.
Wann ist der elterliche Erziehungsauftrag zu Ende?
Dawirs: Mit der Pubertät. Biologisch gesehen ist der Mensch dann erwachsen. Jung und unerfahren, aber erwachsen. Was wir auch immer unter Erziehung verstehen, ist dann abgeschlossen. Von nun an gilt die Hausordnung.
Was kann die „Hausordnung“ bewirken und warum sind Regeln wichtig?
Dawirs: Junge Erwachsene wollen aufbrechen, vieles anders machen als die Alten. Das ist gut so. Damit das auch funktioniert, braucht es den Widerstand des Bestehenden. Das bietet Sicherheit, lässt Grenzen erkennen im kreativen Chaos der Pubertät. So entwickeln sich selbstbestimmte Persönlichkeiten.
Was brauchen Kinder in der Pubertät?
Moll: Freiheit, Respekt und Verantwortung.
Ralph Dawirs ist Zoologe, Meeresforscher, Hirnforscher, Doktor der Naturwissenschaften und Professor für Neurobiologie. Er leitet die Forschungsabteilung der Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit am Universitätsklinikum Erlangen.
In allgemein verständlichen Bücher und Vorträgen setzt er sich für die Belange von Kindern und Jugendlichen ein.
Gunther Moll ist Arzt, Doktor der Medizin und Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Er leitet die Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit am Universitätsklinikum Erlangen. Er beschäftigt sich im Besonderen – auch als Kinder- und Gesundheitspolitiker – mit den optimalen Entwicklungsbedingungen von Kindern, den Lebensbedingungen von Familien, den Chancen einer Mehrgenerationengesellschaft und der Ausbildung psychischer Gesundheit.
Buchtipp:
Ralph Dawirs & Gunther Moll
Die 10 größten Erziehungsirrtümer und wie wir es besser machen könnten
Verlag Beltz